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Psychoanalyse macht abhängig

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psychoanalse-abhaengigSich unabhängig zu fühlen ist wunderbar. Unabhängigkeit ist das, was die Menschen anstreben. Doch am Anfang jeder Unabhängigkeit steht die Abhängigkeit. „Analytiker machen ihre Patienten von sich abhängig“, sagen viele verächtlich. Kürzere Therapien würden viel rascher zur Autonomie führen. Doch tun sie das wirklich? Die Psychoanalyse ist aus meiner Sicht die „Intensivmedizin“ der Psychotherapie. Zu ihr finden Menschen ihren Weg, die tiefgreifende Veränderungen suchen. (Text & Bild: © Dunja Voos)

Mit der Hilfe eines anderen neue Schritte wagen

Viele Patienten kommen zum Psychoanalytiker, weil sie merken, dass sie alleine nicht weiterkommen. Das ist der erste Schritt in die Abhängigkeit: Ich merke, dass ich einen anderen brauche. Und dann kommen weitere Schritte: Man beginnt, sein Problem näher anzuschauen. Man hat Angst vor den Schmerzen oder Angst davor, von Tränen überwältigt zu werden. Doch der Psychoanalytiker bietet Schutz. In seiner Begleitung kann man sich an Themen wagen, die man vorher immer umschiffte.

Meine Hand kann sich nur frei bewegen, weil sie verbunden ist mit einem gesunden Arm.

Mitten drin

Wer das Fass der psychischen Probleme aufgemacht hat, merkt bald: Ich brauche den Analytiker. Man kann es sich vorstellen wie eine Operation: Das Bein ist verletzt. Damit man wieder unabhängig laufen kann, begibt man sich in die Hand eines Chirurgen. Der Chirurg eröffnet das Bein und der Patient erlebt – oder verschläft – eine minuten- oder stundenlange Abhängigkeit. Während der Chirurg an der Wunde arbeitet, kann der Patient nicht weglaufen. Er ist darauf angewiesen, dass er „in guten Händen“ ist.

Ebenso ist es in der Psychoanalyse. Die Vorstellung, sich mit seiner Psyche und ihren schweren Verletzungen in die Hände eines anderen zu begeben, macht große Angst. Jeder spürt: Ein Analytiker kann auch schaden. Und auch Schäden kommen in der Psychoanalyse immer wieder vor, wie in der Chirurgie auch.

Auf das Gefühl hören

Doch in der Psychoanalyse ist man wach. Es können sich Zweifel melden und Warnlichter angehen, wenn man bemerkt, dass der Psychoanalytiker einem nicht gut tut. Ebenso spürt man als Patient, wenn es sich richtig anfühlt. Man merkt: Ich bin jetzt mit meiner Wunde in seinen/ihren Händen, aber er/sie wird alles dafür tun, damit es mir besser geht.

Fährt der Analytiker an kritischen Punkten in den Urlaub, wird die Abhängigkeit durch und durch spürbar. Und dennoch: Die meisten stellen fest, dass das „Überleben“ auch ohne Analytiker möglich ist. Es ist vielleicht vergleichbar mit einer Liebesbeziehung: Natürlich geht’s auch ohne Partner, aber dennoch vermisst man ihn schmerzlich. Natürlich kann man mit Wunden weiterleiben, aber es ist doch viel schöner, wenn sich jemand den Wunden widmet und sich dabei so viel Zeit nimmt, wie es eben braucht.

Gute Abhäängigkeit macht unabhängig

Die selbstständigsten Menschen sind deshalb so selbstständig, weil sie in „guten Abhängigkeiten“ leben. Weltumsegler sagen: „Hätte ich meine Frau im Hintergrund nicht gehabt, hätte ich diese Reise nie gewagt.“ Kinder, die wohlbehütet aufwachsen, können gute Berufe ergreifen, gesunde Partnerschaften eingehen und wundervolle Karrieren machen. Kinder, die vernachlässtigt werden oder zu früh „selbstständig“ sein müssen, entwickeln hingegen oft eine Neigung, sich an andere Menschen zu hängen und wirken oft hilflos.

Einer gibt dem anderen Kraft

Die Stärke, die ein Mensch von einem anderen mitbekommt, ist immer spürbar. Die Abhängigkeit in der Psychoanalyse ist eine Abhängigkeit auf Zeit. Sie besteht für einige Jahre. Doch der Patient nimmt – wenn es gut geht – einen neuen „guten Geist“ auf und findet gleichzeitig zurück zu eigenen Quellen, die bisher verschüttet waren.

Bindung durch Bindung

Meistens führt die Psychoanalyse dazu, dass die Patienten beziehungsfähiger werden. Viele haben vor der Analyse noch nie eine „gute Abhängigkeit“ erlebt. Auch dadurch kann es kommen, dass Menschen Single bleiben. Wer die Erfahrung einer „guten Abhängigkeit“ gemacht hat, kann sich leichter auf einen Partner einlassen. In guten Partnerschaften – genau wie in guten Analysen – können Verbindlichkeit, Abhängigkeit und Freiheit gut miteinander Hand in Hand gehen. Ja, die Psychoanalyse macht abhängig. Man sehnt sich nach der nächsten Stunde und leidet, wenn der Analytiker weg ist. Und man freut sich auf das Wiedersehen, weil man weiß, dass man „gut gedeiht“ und sich weiterentwickeln kann.


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